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Houston: Wir haben ein (Vollzugs-)Problem!

Es häufen sich Berichte über öffentliche Verwaltungen, die nicht in der Lage sind, alltägliche Leistungen, wie Beantragung eines Personalausweises, direkt für den Bürger einigermaßen zeitnah zu erbringen. Aber auch die Länge von Planungs- und Genehmigungsprozessen ist immer wieder Thema in der Berichterstattung. Gleiches gilt für die Aufnahme von Menschen, die „plötzlich“ nach Deutschland kommen, wo eine professionelle Registrierung kaum gelingt. Hier stellt sich nicht nur die Frage, ob die öffentliche deutsche Verwaltung ausreichend modern ist, sondern ob sie ihr Kerngeschäft verlernt hat. Es geht dabei nicht um komplexe Sachverhalte, sondern vielfach um die Bewältigung von „Normal- und Routinegeschäft“. Weitergehend kann vermutet werden, dass die Verwaltung auf der Vollzugsebene mit den politischen Ambitionen und Zielen heillos überfordert ist.

Die Gründe der Vollzugsüberforderung sind vielfältig: u.a. fehlt es in Behörden an Menschen bzw. Menschen mit entsprechenden Kompetenzen (Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten), die mit komplexen Anforderungen umgehen und diese in einen sauberen und modernen Vollzug übersetzen können. Selbst in einer vergleichsweise übersichtlichen Stadt wie Potsdam, deren Bürgerservice einst als vorbildlich galt, liegen katastrophale Zustände vor. Das herkömmliche Lösungsspektrum – wie in Potsdam angedacht – ist allerdings symptomatisch für die öffentliche Verwaltung: Es wird versucht, mit mehr Personal und mehr Online-Terminen die Probleme in den Griff zu bekommen. Das ist so, als würde man versuchen, mit mehr Pferden die heutige Landwirtschaft für die Bestellung der Äcker zu optimieren. Es geht bei weitem nicht nur um schnelleren Bürgerservice wie Personalausweis oder Kfz-Zulassung, das ist nur das sichtbare Feld, weil es sehr schnell in der Zeitung landet. Vollzugsprobleme sind nahezu in jedem strategisch relevantem Politik- und Verwaltungsfeld vorzufinden und das mit teilweise dramatischen Auswirkungen.

Themen wie Bauen und Wohnen, Familie und Kind, Migration, Katastrophenschutz oder Bildung – in fast allen Bereichen lassen sich Beispiele eklatanter Vollzugsschwäche finden, die nicht mehr nur punktuell sind und mehr als anekdotischen Einzelfallcharakter haben. Am Bereich Wohnen lassen sich besonders gut durch die Politik verursachte Vollzugsprobleme aufzeigen. Man mag zum Mietendeckel-Gesetz in Berlin, das mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde, politisch stehen wie man will. Fakt ist, dass selbst zwei Jahre nach Inkrafttreten des Mietendeckel-Gesetzes noch nicht mal die Hälfte der dafür notwendigen Stellen besetzt waren. Die IT-Ausstattung hat ebenfalls gefehlt. Da sich das Gesetz als verfassungswidrig erwies, ist weiteres administratives Desaster ausgeblieben. Die jüngst vorgeschlagene Miethöhenregulierung, nämlich die Miethöhe am Einkommen des Mieters festzumachen, wird auf der Vollzugsebene ähnlich desaströs verlaufen, wenn sie nicht vorher schon rechtlich gekippt wird. Ein bürokratischer Rattenschwanz wäre die Folge mit übergriffiger, hochgradig diffiziler, überteuerter und obendrein freiheitsraubender Schnüffeladministration. Solche politischen Vorgaben kämen kaum ohne eine strengste Überwachungs- und gemeinwohlschädigende Anschwärzbürokratie aus.

Gerade klientelistische Detailsteuerung überfordert regelmäßig die Vollzugsebene des Staates, egal wie viel Management und Digitalisierung hinzugefügt werden. Dadurch laufen politische Ziele de facto ins Leere. Das hat schon der Verwaltungswissenschaftler Thomas Ellwein in den 1990er Jahren anhand seiner empirischen Forschung in der Steuerverwaltung aufgezeigt: Verwaltungen reagieren auf ständige Geset- zesänderungen, indem sie Regeln ignorieren. So lässt sich auch Komplexität verarbeiten, auch wenn es de jure eigentlich nicht vorkommen dürfte. Die Regelungsdichte und -tiefe macht es auch für Bürger nicht einfach, Regeln zu befolgen, wenn ihnen noch nicht mal bewusst ist, dass sie gegen solche verstoßen. Ein solches „sachgedankliches Mitbewusstsein“ (entlehnt aus dem Strafrecht) bei nichtjuristisch vorgebildeten Menschen ist kaum möglich.

Die aufgezeigte Vollzugs- respektive Managementschwäche wird in der Regel auch nicht mit verstärkten IT-Einsatz abgebaut, vielmehr ist sie eine weitere komplexitätserhöhende Komponente, die wiederum anspruchsvoll zu managen ist. Das Spiel ist immer das gleiche: Kleinteilige Regulierung führt regelmäßig zur Vollzugsüberforderung, diese führt zur regulativen Nach- und Neujustierung, die dann in der Regel zu neuer Überforderung auf Vollzugsebene führt. Bürger bzw. in dem Fall Wohnen Vermieter suchen nach mehr oder weniger legitimen Umgehungsstrategien. Es entsteht ein spiralförmiger Sog von Vollzugsüberforderung und Überregulierung, der zur Selbstverstärkung tendiert und seine administrativen Eigendynamiken entwickelt. Neue Detailvorgaben führen dann zu neuen Ressour- cenbegehrlichkeiten auf der Vollzugsebene und die dann zu diversen Interpretations- und Vollzugslücken, die auf der Arbeitsebene des Staates durch diverse Vorschriften ausgefüllt werden müssen, führen.  Pointiert: bedingt vollzugsfähige, inhaltlich überregulierte Gesetze treffen auf bürokratisch gelebte Arbeitsstrukturen.

Die Liste kann man weiter führen so wie im Krisenmanagement und Katastrophenschutz. Aus dem Katastrophen- und Krisenmanagement ist bekannt, dass es auf schnelle Entscheidungen selbst bei unklarer Datenlage ankommt. Derzeit hat es eher den Anschein, dass die Verwaltung danach handelt, was nicht sein kann, das nicht sein darf. Dabei nehmen Krisen- und Katastrophen weiter zu, überlagern und verstärken sich. Egal ob Finanzkrise, Klimakrise und deren vielfältige Folgen, Migration, die massive Zunahme von Cyberangriffen. Das tritt nicht mehr nur, wie vielfach in der Vergangenheit, sequenziell, punktuell und linear auf, sondern gleichzeitig mit sich gegenseitig verstärkenden Effekten. Intervention nach einfacher Ursache-Wirkungslogik ist nicht (mehr) möglich. Es braucht komplexere Management- und Organisationsantworten auf der Vollzugsebene des Staates sowie dazugehörige, darauf abgestimmte moderne IT-Systeme. Denn wir haben es mit modernen Krisen zu tun, deren Lösung nicht mehr ohne Weiteres herbeizuführen ist, es sind akkumulierende Dauerkrisen, die aufpoppen, zeitweilig abflauen, ggf. schnell exponentiell werden, jedoch nicht mehr einfach so weggehen, sondern ihre eigene Dynamik entfalten. Das ist der neue zu akzeptierende Normalzustand, auf den Vollzug heute reagieren muss!

Der Staat ist gegenwärtig kaum in der Lage, etwas ausreichend dagegen zu setzen – weder personell noch organisatorisch oder technisch. Während am Anfang der Corona-Pandemie staatliches Handeln und Reaktionen insgesamt noch gut organisiert waren, ging der Verwaltung im Zeitverlauf der Pandemie die Luft aus, weil keine Reserven vorhanden waren und nicht während der Pandemie gelernt wurde. Überforderter Vollzug hat keine Reserven, egal wie viel Personal eingesetzt wird. Anderes Szenario: Wenn das erste Wasserwerk oder das Stromnetz einem ernsthaften Cyberangriff ausgesetzt ist, dürfte ebenfalls heillose Überforderung eintreten, das lässt sich ganz einfach prognostizieren, zumal die Bevölkerung wenig darauf vorbereitet wird (Stichwort: Abbau von Zivilschutz seit den frühen 1990iger Jahren). Der Staat ist nicht ausreichend in der Lage, für die physische Sicherheit seiner Bevölkerung zu sorgen, eine grundlegende Staatsaufgabe bzw. öffentliche Aufgabe. Noch einmal: das käme nicht überraschend, sondern ist absehbar und damit grundsätzlich lösbar. Völlig egal, ob es sich um die Unfähigkeit handelt, Geflüchtete zu registrieren oder die mangelnde Grünflächenpflege in Berlin – die strukturellen Defizite im Alltagsgeschäft der Verwaltung sind evident. Nicht nur, dass sie kostenaufwändig sind und für weitere Staatsverdrossenheit seitens der Bürger sorgen, sondern die Wirkung in der Gesellschaft (Impact/Outcome) wird durch diese strukturelle und systemische Vollzugsschwäche hintertrieben. Politische Ziele werden nicht erreicht oder gar ins Gegenteil verkehrt. Selbst physische Sicherheit ist gefährdet. Das alles ist bitter, zumal Deutschland im internationalen Vergleich mit die höchste Steuerlast aufweist und vielfach noch Gebühren für konkrete Verwaltungsleistungen zu entrichten sind.

Man könnte meinen, dass es auf gesamtstaatlicher Ebene besser aussehe, wie z.B. mit dem Onlinezugangsgesetz (OZG), das vorsieht, bis Ende 2022 wesentliche Verwaltungsleistungen zu digitalisieren. Abgesehen davon, dass bis dato nur ca. 15 Prozent von den knapp 600 Verwaltungsleistungen umgesetzt sind, war das 2017 geschaffene Gesetz mit seinem festgelegten Modernisierungskonzept von Anfang an völlig veraltet. Hinzukommt: Das OZG ist keine Innovation, sondern

Bestenfalls nachholende Digitalisierung, die jetzt dem Bürger als Innovation verkauft wird. Im Rahmen des OZG Programm Föderal wird die räumliche und nur historisch noch zu begründende verteilte Dienstleistungsproduktion in der Fläche mit enormem Integrations- und Management-Aufwand erkauft. Und das nur, um kommunale Befindlichkeiten zu bedienen. Dabei ist es besonders aus Digitalisierungssicht mehr als widersinnig, eine Dezentralität für staatliche Aufgaben in der bisherigen Form bei Standardbürgerdiensten zu betreiben. Das ist Schildbürgertum in Reinform und zwar mit doppelten Kosten. Kein Wunder, dass es erhebliche Projektverzögerungen mit aus-ufernden Kosten beim OZG gibt. Gleiches trifft auf die Konsolidierung der IT beim Bund zu, wo es nicht gelang, ein funktionierendes Bundesrechenzentrum für alle Bundesbehörden nach modernen Gesichtspunkten aufzubauen. Das erzeugt nicht nur hohe Kosten, sondern gefährdet auch die Cybersicherheit, zumal Cyberangriffe immer mehr Bestandteil neuer Kriegsführung werden. Trotz Milliardenausgaben, u.a. für externe Beratung, liegen nicht annähernd vorzeigbare Erfolge vor. Generell gilt: Wenn man massiv Berater einsetzt, muss man auch in der Lage sein, diese zu steuern. Auch die Veränderungsbereitschaft in der Behörde kann man nicht auf externe Berater auslagern. Die Verwaltung agiert wie: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“ Innovation lässt sich nicht einkaufen wie ein Anzug von der Stange.

Man muss kein Verwaltungswissenschaftler sein, um die strukturellen Vollzugsdefizite deutscher Verwaltungen zu erkennen. Dabei sind die eigentlichen Herausforderungen für die Vollzugsebene noch nicht einmal vollends eingetreten:

  • In den nächsten Jahren wird es zu einer Verrentungs- und Pensionierungswelle kommen. Die Verwaltung ist hierauf kaum vorbereitet. Einzigartiges Spezialistenwissen in vielfältigen Politik- und Verwaltungsfeldern, v.a. in technischen Berufen in der Verwaltung, wird verloren gehen. Hier drohen massive Funktionsdefizite und Ausfälle, worauf die beschriebenen Probleme allenfalls einen Vorgeschmack liefern.
  • Zunahme gesellschaftlicher Problemlagen und Verkomplizie- rung von Lebenssachverhalten (Stichwort: Einkommensanrechnung bei Patchworkfamilien), die zu weiteren Vollzugs- überforderung führt. Vielfach passen die zu vollziehenden Gesetze überhaupt nicht mehr zu den heutigen lebensweltlichen Zusammenhängen der Bürger.
  • Weitere Zunahme und neue Dynamik bei Krisen, die von Staat und Verwaltung antizipiert werden müssen. Verwaltungen müssen weiterhin und zunehmend auf Unvorhergesehenes vor- bereitet sein und zwar in allen Verwaltungszweigen!
  • Es ist zu erwarten, dass die Politik mehr Detailsteuerung über Gesetze versucht, um Klientelinteressen, wie beim Mietendeckel-Gesetz, zu bedienen oder um Symbolpolitik zu betreiben, wie beim Sondervermögen Bundeswehr, auch wenn Verfassungsrecht mitunter offensichtlich tangiert wird.
  • Der Fachkräftemangel macht sich auch im öffentlichen Sektor bemerkbar. Gerade bei der Einstellung von Auszubildenden oder Studierenden für das duale Studium werden mehr Kompromisse geschlossen, was Abschlussnoten und Einstellungstests angeht. Provokativ: findet hier nicht eine strukturelle Negativauswahl statt, die mit üppigen Ausbildungsvergütungen eine Bewahrermentalität ansozialisiert?

Der Problemstau und Handlungsdruck auf der Vollzugsebene ist insgesamt einfach zu groß, als dass etwas Digitalisierung hier und da sowie die Umsetzung einiger Management-Instrumenten ausreichen würden. Staatliche und kommunale Strukturen und Prozesse sind mittlerweile einfach zu kompliziert. Wer von den Mitarbeitenden soll den komplizierten Staat noch bedienen, geschweige denn von seiner Funktionsweise her noch verstehen können? Diese Strukturen verursachen auch noch unnötige Kosten: Wenn der Staat 100 Euro aufwenden muss, um 30 Euro als Unterstützungsleistung für Kinder (im Rahmen von Beteiligungs- und Teilhabegutscheinen) auszuzahlen, dann verdeutlicht es die ganze Misere. Die genauen Vollzugskosten sind in der Regel nicht bekannt – und auch nicht von (politischem) Interesse. Ein Umbau im Bestand und die Optimierung bestehender Institutionen wird kaum noch gelingen bzw. ausreichen und wird vielfach nur zu suboptimalen Ergebnissen führen. In Analogie zu deutschen Autobauern: Deutsche Ingenieure waren und sind gut darin, den Dieselmotor zu optimieren (trotz des Dieselskandals). Dafür ist höchst spezialisierte Ingenieurexpertise gefragt. Das hilft aber nicht mehr, weil der Elektromotor ganz andere Anforderungen stellt und Diesel keine Zukunft hat. Zeitenwende!

Diese trifft auch den Vollzugsstaat: Die Planung eines normalen Radweges in Deutschland unter regelkonformer Einbindung aller Beteiligten dauert nicht selten bis zu zehn Jahre und dann kommt es trotzdem zu Fällen, dass der Radweg – wie an einer Berliner Bezirksgrenze geschehen – einen rechten Winkel aufweist, wo er eigentlich geradeaus geführt werden sollte. Wie lange dauert dann die Genehmigung komplexerer Anlagen zur regenerativen Energiegewinnung, die aufgrund der politischen Lage und des Klimas jetzt gebraucht werden und nicht erst in zehn Jahren? Man kann sich ausrechnen, ob in Bälde das politisch gesetzte Ziel der CO2-Neutralität erreicht werden wird. Kein Wunder also, dass die (Bundes-)Politik Instrumente wie Beschleunigungsgesetze nutzt, die die klassischen Vollzugsebenen und Beteiligungsformen umgehen sollen. Das Risiko für Beeinträchtigungen der politischen Kultur und die Errungenschaften der Demokratie, die sich ja auch in der Beteiligung in Großprojekten widerspiegeln, ist zweifelsfrei vorhanden.

Viele Behörden, Institutionen und Verfahren haben sich in Zeiten von Digitalisierung und in Anbetracht heutiger gesellschaftlicher Anforderungen überlebt bzw. müssten mindestens gründlich überdacht werden, statt zu versuchen, sie mit viel Aufwand und mehrstelligen Millionenbudgets zu digitalisieren/ zu modernisieren. Zu denken ist an zahlreiche Zwischenebenen und fragmentierte Sonderbehörden mit kleinteiligsten Aufgaben in diversen Flächenländern, die zur Verkomplizierung von Abläufen und Verfahren beitragen. Sie hatten ihre Berechtigung in der analogen Zeit. Auch das System der staatlich übertragenen Aufgaben auf Kommunen muss überdacht werden: Staatliche Aufgaben wie Wohngeld oder Kfz-Zulassung werden trotz gleicher Gesetzeslage sehr unterschiedlich und kleinteilig ausgeführt und das mit extrem hohen Vollzugskosten. Dies selbst innerhalb eines Bundeslandes! Unter dem Deckmäntelchen der Selbstverwaltung/Organisationshoheit und Demokratie kocht jede Kommune ihr eigenes Süppchen, selbst in Berlin auf Bezirksebene besteht Selbstverwaltung für Standardaufgaben, obwohl es eine Stadt ist. Heute sind ca. 10.000 Mitarbeiter deutschlandweit direkt oder indirekt im Kfz-Zulassungswesen beschäftigt und das für einfachste Registerprozesse – und vielfach schlecht organisiert. Würde Amazon so seine Abläufe organisieren, wäre das Geschäftsmodell nicht annähernd tragfähig. Der Staat leistet sich ein solches System ohne erkennbaren Nutzen für sich und für den Bürger. An der Unfähigkeit, sich gut zu organisieren, verdienen Private als Mittler zwischen Bürokratie und Bürger mit ertragreichen Geschäftsmodellen, wie die seit langem etablierten privaten Kfz- Zulassungsdienste. Für deren Dienste müssen Bürger zusätzlich bezahlen, obwohl sie es schon mit Gebühren und Steuergel- dern getan haben. Bereits vor 15 Jahren wurde im Rahmen von Deutschland-Online versucht, das Kfz-Wesen gründlich zu refor- mieren, respektive zu digitalisieren. Ergebnis: Unreformierbar!

Zu viele – nicht nur private – Gegenspieler (bis zu 40 Akteure!) jeweils mit vorgeschobenen Sachbegründungen. So war selbstverständlich der Verband der Schilderpräger gegen eine grundlegende Reform (Fun Fact: Viele wussten noch nicht einmal, dass es einen solchen gibt.). Auch der Bankenverband hatte ebenfalls wenig Interesse, die Zulassungsbescheinigung II (ZB II) zu digitalisieren. Nicht nur, weil Banken aus überkommenen Gründen das Papier behalten wollten, sondern auch im Zusammenspiel mit den Unternehmen, die das Papier in ihrem Auftrag verwalten. Die Kosten für diese aufwendige Verwaltung tragen selbstverständlich die Autokäufer. Dass die Vertreter der Landkreise gegen eine Erneuerung waren und sind, versteht sich fast schon von selbst. Es lassen sich viele weitere Beispiele für private Mittler anführen, wie die Steuerverwaltung mit der Vertretung durch Steuerberater. Elterngeld zahlen mittlerweile private Träger an die Eltern aus und holen sich dieses gegen Gebühr vom Staat zurück. Private Träger halten damit de facto eine zur öffentlichen Verwaltung gespiegelte Elterngeldstelle vor. Förderung von Kind und Familie sieht anders aus, als mehrere Monate nach der Niederkunft auf seinen Lebensunterhalt zu warten. Die naheliegende Lösung: Die Elterngeldstelle sollte konsequenterweise gleich auf private Träger übertragen werden, die sich mit weniger Personal besser organisieren können. Das spart Steuergelder und Nerven! Insgesamt spielt die Komplexität der Gesetze und das daraus resultierende Bürokratiegestrüpp den Privaten in die Hände und führt letztlich jedoch zu einer Ungleichbehandlung von Bürgern, da sich nicht jeder die Dienste von privaten Trägern leisten kann.

Was tun? An Veränderung grundsätzlicher rangehen!

Hätten die Reformer Stein und Hardenberg, würden sie heute leben, in Anbetracht der digitalen Möglichkeiten und der zu bewältigenden Herausforderungen den (Preußischen) Staat noch so gebaut wie einst? Was ist erforderlich in Anbetracht der digitalen Organisationsmöglichkeiten und Herausforderungen?

  • Es braucht als erstes folgende Klarstellung: Das Ressortprinzip gilt nicht für digitale Infrastrukturen, Standards, Querschnittsdienste etc., sondern nur für inhaltsbezogene Fachpolitiken.
  • Zero Based Government: Aufgaben und Institutionen einschließlich ihrer Prozesse sind radikal in Frage zu stellen: Abschaffung, Umbau, Neubau statt Optimierung. Es geht um eine radikale Vereinfachung (Simplification) und Entspezifizierung, wie Ökonomen sagen. Klar beurteilen, was wird noch gebraucht, welche Staatsorganisationsprinzipien sind beizubehalten, welche weiterzuentwickeln und welche abzuschaffen. Gerade staatliche Strukturen und Prozesse neigen dazu, im Laufe ihrer Existenz Moos anzusetzen; das muss entfernt werden.
  • Abschaffung der kommunalen Organisationshoheit für staatliche Standardaufgaben; bestenfalls eine kommunale Orchestrierungshoheit für vordefinierte (staatliche) Services beibehalten. Zurückziehen von staatlich übertragenen Standardaufgaben, die die Kommunen in den nächsten Jahren aufgrund der Pensionierungswelle ersticken werden, dadurch bekommen sie Luft zum Gestalten ihres Raums. Die Arbeit direkt am Bürger, Wohlfahrtsaufgaben, Altenbetreuung, Kinderbetreuung, Bürgernähe – das ist alles weitaus wichtiger und kann auch durch die Digitalisierung zeitgemäß gestaltet werden. Es gibt zig wichtigere kommunale Aufgaben mit vertieftem Örtlichkeitsbezug und Bürgeraktivierung als staatlichen Standarddienstleistungen eine individuelle Note durch eigene Prozess-, Formular- und IT-Gestaltung zu Kommunale Selbstverwaltung muss zeitgemäß weiterentwickelt werden, so dass sie mit digitaler Vernetzung vereinbar ist.
  • Wissenssicherung und Entlernen ist angesagt: Abwägen, was strategisch relevantes, zeitgemäßes und brauchbares Wissen ist und was obsolet ist! Entlernen und neu lernen wird wichtiger sein als bestehendes Wissen (Stichwort: „Dieselmotor) einfach nur vollumfänglich zu sichern, wie es gegenwärtig in verzweifelter Hektik versucht wird! Entlernen ist wichtig für eine Pfaddurchbrechung und Grundlage für echte Innovation!
  • Strategische behördliche Reserven schaffen, um auf Unvorhergesehenes vorbereitet zu sein: organisatorische Muskelmasse aufbauen statt bürokratischen Bauchspeck. Die Folgen des Klimawandels und andere Krisen/Risiken machen Reserven erforderlich. Einfach mehr vom Bisherigen reicht nicht aus.
  • Konsolidierte staatliche Register mit entsprechender Servicearchitektur als Shared Service aufbauen und um diese herum die dazugehörigen Prozesse neu gestalten auf Basis wiederverwendbarer Bausteine statt zu versuchen, Dezentralität mit komplizierter und wartungsaufwändiger Standardisierungsbürokratie am Leben zu halten
  • Einen echten Gesetzgebungs-TÜV einführen, der von Anfang an auf die digitale Vollzugsfähigkeit von Gesetzen achtet. Auch sind systematisch Regulierungsalternativen zum Eigenvollzug in Betracht zu ziehen. Der Bundesrat ist im Gesetz- gebungsprozess viel zu spät dran, um bei einem Gesetz im Hinblick auf Vollzugsfähigkeit Änderungen zu erwirken. Der Bundesrat kann in seiner Rolle nur ablehnen oder mehr Geld fordern, was oft genug geschieht.
  • Juristische und administrative Vorfahrtsregeln für die Genehmigung von CO2-reduzierenden Projekten einführen, notfalls mit Genehmigungsfiktion.
  • Arbeitgeberattraktivität erhöhen, um ambitionierte Fachkräfte mit einer entsprechenden Public Service Motivation zu gewinnen. Weg vom langweiligen Behördenimage; mit interessanten Aufgaben und Arbeitsinhalte werben statt mit der Sicherheit des Arbeitsplatzes.
  • Führungskräfte und oberste Führungskräfte einstellen, die nicht in erster Linie aufgrund ihres Parteibuchs, sondern aufgrund ihrer managerialer Fähigkeiten ausgewählt werden. Nicht selten dienen oberste Führungsstellen als Versorgungsposten für nicht anderweitig untergekommene Politiker. Die se Art von Klientelismus wird in Entwicklungsländern beobachtet und vom „Westen“ beklagt. Schlechte Minister können durch einen guten Apparat aufgefangen werden; umgekehrt geht das weniger.

Das sind mitnichten alle Punkte, aber dennoch wesentliche Aspekte, die alle mehr oder weniger gleichzeitig angegangen werden müssen und zwar aufeinander abgestimmt. Es ließe sich noch einiges mehr aufführen und sicher deutlich abgewogener und differenzierter darstellen. Selbstverständlich ließen sich auch zahlreiche positive Beispiele anführen, darüber ist sich der Verfas- ser hier mehr als bewusst. Was aber klar sein muss: Klein klein, inkremental, eine Strategie des Durchwurschtelns und jahrelange administrative Verzögerungstaktiken mit mikropolitischen Spiel- chen sind einfach nicht mehr möglich, wenngleich aus (verwaltungs-)wissenschaftlicher Sicht interessant zu untersuchen. Der Modernisierungsrückstand ist einfach zu groß. Alles, was gegen- wärtig an Reformen angedacht ist und stattfindet, hat weitestgehend nachholenden Charakter und läuft in die falsche Richtung. Nochmal deutlicher: Die vielfach gegenwärtig durchgeführten und angedachten Reformen bereiten nicht annähernd auf die Zukunft vor, sondern helfen bestenfalls, die Gegenwart zu bewältigen. Man sollte nicht vergessen: Da auch die Umsetzung der (nachholenden) Reformen lange dauert, werden sie nach ihrer Umsetzung (sollte sie je gelingen) nicht für die dann vorliegende (neue) Gegenwart passen, so dass wieder nachholende Reformen erforderlich werden. Dieses Hase-Igel-Spiel gilt es zu stoppen:

Houston, Problem nicht gelöst!

Ihr

Prof. Dr. Tino Schuppan